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Diät
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DIE VENUS VON ANN ARBOR

Früher benutzte die amerikanische Künstlerin Brenda Oelbaum Diätbücher,um abzunehmen. Heute macht sie Kunst daraus. AUFGEZEICHNET VON ANJA JARDINE

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Brenda Oelbaum: «Jede Diät ist eine Essstörung.»

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Diät

Bei der Arbeit bringt jemand einen Schokoladenkuchen mit und reicht den Teller herum. Ich sitze da und denke: «O mein Gott, ich will auch ein Stück. Aber wenn ich eins hatte, dann will ich noch eins, und wenn die anderen nachher zum Lunch gehen, esse ich alles auf, und dann muss ich zum Bäcker laufen und einen neuen holen, damit niemand etwas merkt, aber dann kaufe ich auch noch mehr für mich. Spätestens auf dem Heimweg bin ich dann so weit, dass ich bei jedem Fastfood-Laden anhalte, der auf meinem Weg liegt.» Ich sitze also da, während der Teller herumgereicht wird, und sehe, wie aus dem einen Stück Kuchen ein Albtraum wird. Wenn ich Glück habe und genug Kraft, denke ich: «Das ist es nicht wert.» – Super Denkweise! sagen manche Therapeuten. Aber da ist nichts super, es ist krank. Eine Form des Wahnsinns.
Der einzige Grund, warum man überhaupt so zu denken beginnt, sind all die Verbote und Regeln, die einem eingebleut werden: «Kuchen ist böse!» Wenn nichts daran falsch wäre, ein Stück Kuchen zu essen, müsste ich nicht den ganzen aufessen. Stell dir vor, jemand sagt dir, du dürftest nur zweimal am Tag pinkeln. Hast du eine Ahnung, wie schnell dir das Pinkeln zur Obsession würde? Du würdest kaum noch an etwas anderes denken. So bin ich erzogen: gutes Essen, böses Essen. Erlaubt, verboten. Und so geschieht es heute überall in den USA; in Sachen Ernährung wird ein regelrechter Krieg geführt, die Präsidentengattin ist ganz vorne mit dabei. Essen wird zu einer moralischen Angelegenheit, die jedes natürliche Körpergefühl dominiert. Ich erinnere mich, dass ich schon als Kind Kekse gemopst und das Einschlagpapier versteckt habe. Bei uns hiess es: «Dessert ist für Jungs.»
Ich bin bei Onkel und Tante aufgewachsen. Meine Eltern haben mich weggegeben, als sie sich scheiden liessen. Da war ich sieben Jahre alt. Meine Mutter litt am Asperger-Syndrom, und mein Vater war der Meinung, ich sei bei ihr nicht gut aufgehoben. Vermutlich hatte er damit auch recht. Er selbst wollte mich nicht, und so kam ich von Montréal nach Toronto zu Onkel und Tante. Plötzlich hatte ich drei jüngere Brüder, der vierte wurde ein Jahr später geboren. Meine Tante war nicht besonders erfreut, mich aufnehmen zu müssen, aber mein Onkel fühlte sich verpflichtet, das Kind seiner Schwester zu adoptieren. Und meine Tante hat ihr Bestes gegeben. Allerdings galten für die Jungs und für mich nicht die gleichen Regeln. Ich musste im Haushalt helfen, sie nicht. In den Ferien wurde ich in ein Lager geschickt, während meine Brüder in ein Tagescamp gingen und abends nach Hause durften. Das machte mir zu schaffen. Trotzdem bin ich froh, adoptiert worden zu sein. Sonst wäre ich im Internat gelandet.
Es war kurz nach dem Sechstagekrieg 1967, als ich in das Haus von Onkel und Tante kam, und kurz darauf reisten die beiden nach Israel. Ich wurde fast verrückt vor Angst, dass sie sterben würden und ich auch sie verlöre. Man musste sie in Israel anrufen, weil ich mich nicht beruhigen liess. Niemand verstand, was mit mir los war. Es fehlte mir doch an nichts. Wir hatten eine Vollzeit-Nanny, die sich um uns kümmerte. Zum Frühstück gab es immer Porridge, ich war allergisch auf Haferflocken, aber niemand sagte es der Nanny, und so hatte ich immer Ausschlag auf den Armen. Mein Onkel war ein gutmütiger, liebevoller Mensch, der das Essen liebte. Am Wochenende ging er als erster runter in die Küche, liess den Hund raus und machte Frühstück für uns Kinder. Während er es zubereitete, ass er selber bereits. Dann ass er mit uns, und dann machte er Frühstück für meine Tante und brachte es ihr ans Bett. Am Ende hatte er dreimal gefrühstückt. Das ging immer so lange, bis seine Anzüge zu klein wurden und meine Tante es nicht mehr aushielt. Dann wurden wir alle auf Diät gesetzt: Onkel und Tante, mein kleiner Bruder, der auch zu viel ass, das Hausmädchen und ich. Ich erinnere mich an die Scarsdale-Diät (siehe Seite 46), da isst man vor allem hartgekochte Eier. An die Liquid-Protein-Diät. Und an das Medical-Weight-Loss-Programm unter ärztlicher Aufsicht, das kostete viel Geld. Damals waren diese Hungerdiäten modern, 500 Kalorien am Tag und viel Protein, Hühnerleber und Tomatenscheiben. Nach der Schule oder vor der Theatergruppe bin ich schnell in diese Praxis, habe mich wiegen lassen und meinen Speiseplan abgeholt.

Meine Familie war wohlhabend und prominent in der jüdischen Gemeinde. Auf Aussehen und äussere Erscheinung wurde viel Wert gelegt, meine Grossmutter ass sehr kontrolliert, man kann schon sagen, rigide bis zur Magersucht. Und auch meine Tante war ein kleine, zierliche Person, der es wichtig war, schlank zu sein. Mich nannte sie Man Mountain Dean, nach einem Ringer aus den 1930er Jahren. Und manchmal ahmte sie meinen Gang nach – wie eine Art Braunbär auf Hinterpfoten. Sie konnte wirklich grausam sein. Aber wenn ich abnahm, lobte sie mich, «wir sind so stolz auf dich», und ich wurde mit einem Einkaufsbummel belohnt.
Das erste Mal so richtig Gewicht zugelegt habe ich auf dem Schiff nach Europa. Damals war ich zehn. Wir haben ein Jahr in derSchweiz gelebt. Auf der Überfahrt haben mein kleiner Bruder und ich durchgesetzt, dass wir nicht zusammen mit den Nannies und den Babies im Kinderzimmer essen mussten, sondern wie die Erwachsenen im Speisesaal. Göttlich! Wir waren frei wie Vögel, ohne Aufsicht und konnten essen, was wir wollten. Da habe ich Vollmilch entdeckt, wir haben Riesenschüsseln Müsli gegessen und mindestens vier Muffins jeder. Wir konnten bestellen, und es kam. Als wir nach zehn Tagen von Bord gingen, wog ich zehn Pfund mehr. Auf dem Schiff war auch eine hübsche 13jährige, die hatte schon Brüste, und ich bewunderte sie. Ich fühlte mich so tolpatschig neben ihr. Ich wollte unbedingt auch einen Bikini haben, und meine Tante kaufte mir einen weissen Baumwollbikini mit roten Kirschen drauf. Als ich den anhatte, merkte ich, dass da nichts stimmte. Aber ich wollte ihn unbedingt haben. Das ist auch typisch für Essstörungen: dieses Vergleichen und die sexuelle Konfusion.
Wenn man alte Fotos anschaut, sieht man, dass ich ein ganz nor-males Kind war. Ich war athletisch. Ich bin geschwommen, und in der Schweiz bin ich geritten und Ski gefahren. Einmal wurden wir in der Schule alle gewogen und ich war die schwerste, das war ein Schock. Aber ich war auch mit Abstand die grösste. Schon damals fing ich an, mein Essverhalten zu kontrollieren. Ich ass keine Schokolade mehr, weil ich gehört hatte, dass man davon Pickel bekomme. Mein Grossvater sagte: «Fasse nicht solche Vorsätze. Denn wenn du sie brichst, bricht es deine Moral.» Aber ich dachte: Ich kann das. Ich habe auch jahrelang durchgehalten. Ich weiss noch, wie wir auf einer Wanderung jeder einen Schokoriegel für den Weg hinauf bekamen und einen für den Weg hinunter. Ich sah, wie die anderen ihren verschlangen und mehr wollten. Ich hatte am Ende beide noch. Und ich kann mich gut an dieses Gefühl der Überlegenheit erinnern: Seht ihr! Ich kann mich beherrschen. Ich genoss den Neid der anderen. Ein seltsames Machtgefühl.
Zurück in Kanada, besuchte ich die High School. Meine Adoptiveltern hatten ein schönes Haus mit Pool im Garten. Ihr Wunsch war

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61. Dann kam der endgültige Zusammenbruch. Die Leute glauben immer, Esskranke hätten die Wahl, sie könnten auch einfach damit aufhören. Das ist ein Irrtum.

Am College traf ich zum ersten Mal eine magersüchtige Frau, ein wandelndes Skelett, aber ich fragte mich voller Bewunderung: Wie macht sie das bloss? Ich kannte es ja selbst, dieses Hochgefühl, das sich mit der Selbstkontrolle einstellt. Und damit auch eine gewisse Verachtung für all die anderen, die sich gehenliessen. Ich erinnere mich noch sehr genau an eine Situation, als ich eine alte Freundin, die auch lange mit ihrem Gewicht experimentiert hatte, auf einer Hochzeit traf. Sie hatte längst zu ihrem normalen Gewicht zurückgefunden und sass an einem Ende des Tisches, ich sass spindeldünn am anderen und rauchte. Später kam sie zu mir und sagte: «Du rauchst?» und ich gab zurück: «Du isst?» Ich musste ihr demonstrieren, dass ich die Stärkere war, die Überlegene. Richtig gemein. Schäbig. Wenn ich heute daran denke, könnte ich heulen, so sehr schäme ich mich. In Wahrheit war sie schon viel weiter als ich.
Meinen Mann lernte ich in einer dünnen Phase kennen. Meine Familie konnte es kaum glauben: Ich habe ihn doch tatsächlich gefunden, den gutaussehenden jüdischen Arzt. Das hat mich in ihren Augen ungeheuer aufgewertet. Und was niemand für möglich gehalten hatte: Er liebt tatsächlich nur mich, bis heute. Er ist immer für mich eingestanden. Auch dann noch, als er mich letztlich fett zu sehen bekam. Anfangs habe ich das natürlich zu verhindern versucht. Wir kannten uns bereits, da geriet ich in seelische Turbulenzen, weil meine leibliche Mutter zurückkehrte und alte Wunden aufriss. Ich habe gegessen und wurde dick, das ging immer schneller. Ich sagte ihm, wir könnten uns nicht sehen, ich hätte Probleme. Doch er blieb am Ball, rief regelmässig an, obwohl ich völlig neben der Spur war, das hat mir imponiert. Als ich mich wieder im Griff hatte, haben wir uns wieder getroffen.
Nach der Hochzeit zogen wir von Kanada in die USA. Dort war ich einsam und deprimiert, und die Fressattacken setzten wieder ein. Ich schloss mich den «Overeaters Anonymous» in New York an, einer Selbsthilfegruppe für zwanghafte Esser, und startete mit dem «Grey sheet food plan», einer angeblich ausgewogenen Ernährung, die auf wenig Kohlenhydraten und viel Proteinen basiert. Da muss man akribisch Buch führen. Diese Diät sowie Appetitzügler aus der Apotheke und Saftkuren blieben bis zum Schluss meine Methoden.
Damals arbeitete ich in Kunstgalerien. Gemalt habe ich auch, aber ich habe meine Sachen gar nicht ernst genommen. In Florenz habe ich Katzen gemalt, später Küken mit weit aufgerissenen Schnäbeln. Immer drehte sich alles um Hunger. Und als wir dann von New York nach Ann Arbor zogen, weil mein Mann hier als Wissenschafter anfing, sass ich sozusagen in der Falle – mit zwei kleinen Kindern in dieser Kleinstadt. Nach der Geburt meines zweiten Sohnes bin ich wieder auf Diät gegangen, ziemlich radikal. Ich wollte wieder in ein bestimmtes Kleid passen, habe es während der Diät aber nie anprobiert, weil ich Angst hatte, es wäre noch immer zu eng. In dem Fall hätte es nämlich passieren können, dass ich mich aus Frust hinsetze und anfange zu essen. Es braucht nur eine Kleinigkeit, um einen Fressanfall auszulösen. Als ich mich endlich traute, es anzuprobieren, fiel es an mir herab, so sehr hatte ich mich getäuscht. Ich hatte überhaupt kein Körpergefühl mehr.

Man wundert sich über diese Diätsendungen, in denen die Dicken sich beschimpfen und beleidigen lassen. Da gibt es zum Beispiel Dr. Phil. Es ist kaum auszuhalten, wie gemein der ist. Aber genau das brauchst du, um durchzuhalten. Nur Selbsthass, Angst und Ekel halten dich im Zaum. In diesem Zustand läufst du tagein, tagaus durch die Welt – voller Geringschätzung für dich selbst. Nach jeder Entgleisung unterwirfst du dich einem noch rigideren Regime. Die Phasen aber, die du durchhältst, werden immer kürzer. Und die Rebellion gegen die eigene Diktatur wird immer massiver.
Ich fing an, für meine Kinder exorbitante Geburtstagsparties auszurichten, weil ich irgendwohin musste mit meiner Energie und meiner Kreativität. Ich habe gebacken wie verrückt und die Kekse handbemalt. Für kurze Zeit wurde sogar ein Geschäft draus, das Fernsehen hat darüber berichtet, ich war die halbe Nacht auf den Beinen und pinselte Rotkehlchen auf Gebäck. Bis es wieder kippte. Erst habe ich ab und zu einen Keks probiert, dann ass ich sie, noch während ich sie bemalte, und am Ende war es Binging.
1999 nahm ich zum letzten Mal radikal ab. Ich lebte mehrere Monate nur von Appetitzüglern und 500 Kalorien am Tag, vor allem Fruchtsaft. Auf der Geburtstagsparty meines älteren Sohns ass ich dann einen Kartoffelchip. Einen! Ich wusste es in dem Moment. Aus und vorbei. Es gab kein Halten mehr. Gerade eben fühlte ich mich noch so perfekt, so sauber, so auf Linie, dann dieses eine böse Ding, und du bist besiegt. Du versuchst noch, dir zu sagen, okay,

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für heute ist alles verloren, scheiss drauf, morgen fange ich wieder an. Aber auch am nächsten Morgen mochte ich nicht mehr, war all dessen so müde, wollte nicht länger gehorchen, nicht mehr gut sein. Ich habe nur noch gegessen. Du versuchst es mit allem, was dir als begehrenswert und köstlich in Erinnerung ist, aber nichts kann diesen Hunger stillen. Ich habe mich hier in mein Studio zurückgezogen und gefressen. Der totale Kontrollverlust. In einem Monat habe ich 28 Kilogramm zugenommen. Ich habe nur noch geweint, verzweifelt und hoffnungslos. Ich wollte sterben.

Wir haben dann eine Klinik für Essstörungen gefunden. Meine geheime Hoffnung war natürlich, dass ich dort lernen würde, auf vernünftige Weise schlank zu sein. Eine neue Person zu werden. Dort endlich den Wandel zu vollziehen, den ich mir schon immer erhofft

«Dass ich fett bin, bemerke ich nur noch, wenn ich in den Spiegel schaue.»

hatte. Stattdessen ging es darum, die Mechanismen zu durchschauen, zu lernen, wieder auf den eigenen Körper zu hören, all diese Gebote und Verbote aus dem Kopf zu kriegen, mit Genuss zu essen. Ich hätte mir früher niemals ein schönes Stück Torte vom Bäcker gegönnt – wie dekadent wäre mir das vorgekommen! Stattdessen habe ich Junkfood verschlungen, wenn schon, denn schon. Pop Tarts zum Beispiel. Das ist süsse Marmelade zwischen zwei Pappscheiben, die du im Toaster warm machst und von denen du 15 Stück essen musst, um etwas zu merken.
Für mich ging es darum, endlich von diesem Karussell abzuspringen und mit mir Frieden zu schliessen. Mit den Diäten war ich durch, ich hätte keine einzige mehr machen können. Aber der Wunsch, schlank zu sein, sitzt tief. Ich fing an, exzessiv Sport zu treiben, ich wurde eine stählerne 100-Kilo-Frau. Doch dann kamen Verletzungen, und ich musste auch damit aufhören. Eine Diät habe ich dennoch nie wieder gemacht, seit mittlerweile 13 Jahren.
Es sind kleine Schritte. Irgendwann blätterst du zum ersten Mal in einem Katalog für grosse Kleidergrössen. Heute hängen in meinem Schrank nur noch Klamotten, die mir passen. Du hörst auf, der Frau nachzutrauern, die du auch mal warst. Dass ich fett bin, bemerke ich nur noch, wenn ich in den Spiegel schaue. Auf eine Waage steige ich nur noch beim Arzt. Früher hat die Zahl auf der Waage darüber entschieden, wie mein Tag werden würde. Heute ist wichtiger, wie das Wetter ist, welche Menschen mir begegnen, welche Einfälle ich habe. Wenn ich schlecht drauf bin und mir der Sinn danach steht, eine Familienpackung Eiscrème zu essen, dann tue ich das und kasteie mich anschliessend nicht dafür. Es kann auch passieren, dass Eis monatelang unberührt in der Truhe liegt, weil ich gar nicht dran denke. Ich versuche in Bewegung zu bleiben, nicht um Kalorien zu verbrennen, sondern um Spass zu haben.
Am erstaunlichsten aber ist, wie viel Kraft frei wird, wenn man nicht mehr den ganzen Tag über Essen und Gewicht nachdenkt. Nach den Terroranschlägen vom 11.September habe ich als Ant-wort auf Bushs Achse des Bösen die «Axis of Evil Rug Series» gemacht, eine Reihe handgeknüpfter Läufer, die die vermeintlich Bösen darstellen, allerdings in eigenwilliger Auswahl – neben Usama bin Ladin und Kim Jong-Il zeigen sie auch Bush und Cheney. Normalerweise sind da Tedddies drauf oder die amerikanische Flagge. Ich habe mich damit in ein Starbucks gesetzt und geknüpft, die Leute kamen und sagten: «Oh, davon habe ich auch noch einen zu Hause liegen, wie schön!» und wenn ich ihn dann auseinanderfaltete, sahen sie Usama bin Ladin. Dann gab es wilde Diskussionen mit Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Religionen. Die Resonanz war überwältigend.
Ich habe in der Kunst meine Stimme gefunden – mit diesen humorvollen, konzeptionellen Arbeiten. Naomi Wolf hat vollkommen recht. In ihrem Buch «Der Mythos Schönheit» schreibt sie: «Eine Kultur, die einem weiblichen Schlankheitswahn huldigt, ist nicht besessen von weiblicher Schönheit, sondern von weiblichem Gehorsam. Diäten sind das machtvollste politische Sedativum in der Geschichte der Frauen.» Genauso ist es.
Eines Tages sah ich im Fernsehen eine Werbung für ein Diätpräparat, das die Venus von Willendorf zeigt, dazu die Worte: «So willst du ja wohl nicht aussehen!» Die wagten es, dieses Symbol weiblicher Fruchtbarkeit, diese Ikone des Feminismus, zu missbrauchen! Da wurde ich wütend. Es war die Geburtsstunde des Venus-von-Willendorf-Projekts. Seitdem sammle ich alle Diätbücher, deren ich habhaft werden kann, und mache daraus eine Venus um die andere. Bitte spendet mir eure alten Diätbücher! Die Adresse findet ihr auf http://www.brendaoelbaum.me. Seite für Seite mache ich aus den Taschenbüchern mit Wasser und Zucker Papiermaché und forme üppige Frauenleiber. Genau wie ich damals wird eine Venus mit jeder Diät dicker. Von manchen Büchern, wie zum Beispiel der Atkins-Diät, habe ich so viele, dass ich mehrere Skulpturen daraus machen könnte. Eine andere Venus trägt Stulpen – die Leute erkennen sie sofort: Jane Fonda, die essgestörte Fitnesskönigin der 1980er Jahre, der wir so lange nachgehüpft sind.
Aus den Hardcovern baue ich ein mannshohes Labyrinth, in dessen Zentrum die Venusse eines Tages stehen sollen. Viele Irrpfade führen dorthin, die die Leute selber gehen können: Jo-Jo-Pfade, die mal eng sind, mal weit, Anorexiepfade, die abrupt enden wie beim Tod oder die immer schmaler werden, so dass normale Menschen nicht mehr hindurchpassen, dazu werden die Gedanken der Essgestörten zu hören sein: «O mein Gott, ich möchte ein Stück Kuchen, aber wenn ich eines hatte, dann will ich noch eins …»
Auch in meinem Kopf sind die Pfade gut ausgetreten. Vor drei Wochen – ich hatte Stress, unser Hund war gestorben, ich fühlte mich schlapp und musste unbedingt für eine Konferenz fit sein –, da bin ich mal wieder in Versuchung geraten. Ich bestellte so ein Pulver in Tütchen, und schon am zweiten Tag stand ich morgens vor dem Spiegel, und eine Stimme flüsterte leise: «Du siehst gut aus. Mach weiter.» Abends sah ich auf einem Parkplatz Leute im Auto essen und dachte: «Guck dir die an! Ist ja ekelhaft.» Da war es wieder: das Hochgefühl, die Kontrolle, die Verachtung, furchtbar. Als meine Söhne sahen, dass ich eine Mahlzeit exakt abwog, fragten sie: Was soll das denn werden? Da habe ich einfach wieder aufgehört. Nicht mit dem Gefühl des Scheiterns, sondern ganz im Gegenteil. Ich habe die Tütchen angeschaut und gedacht: «Well, irgendwas mache ich aus euch.»

ANJA JARDINE ist NZZ-FOLIO-Redaktorin.

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About fatfeministactivistart

I'm a fat feminist activist artist...if you have any buttons I want to push them. I am currently working on an installation about the so called "Obesity Crisis." Right about now I would like to shove a big old apple in Michelle Obama's mouth so that she would keep it closed. No offense but she's not making anything better by getting parents and children all obsessed with FAT...Listen to your own bodies folks the answer is there. Oh yes...and send me your diet books...I need them all.
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4 Responses to Sprechen Sie Deutsch?

  1. dieter m. r. says:

    dear Brenda I read the article in German at nzz online and I loved it and I love what you do keep going on
    Hugs from Switzerland
    Dieter

  2. Kathleen says:

    Dear Brenda,

    I enjoyed reading the article in the recent Folio. Couldn’t believe how familiar some of the statements/thoughts of the article were to me. I guess this struggle to fulfufil expectations (from outside and one’s own) is something many of us have to deal with. I admire you.
    Alles Liebe und viel Glück und Zuversicht in Zukunft.
    Kathleen

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